26. April 2019 Welt erblicken Ein kurzes Nachdenken über unsere Sichtweisen: Ein Mädchen aus unserer Nachbarschaft weinte, ein Junge habe zu ihr gesagt, sie sei nicht schön. Sie sagte: Ich möchte, dass er mich schön sieht. Ist das nicht berührend? See me beautiful, wie schon Marshall B. Rosenberg sagte. Es ist wohl die Art, wie wir den Blick auf etwas ruhen lassen, was entscheidend ist für unsere Weltsicht, für unsere Art, Mitmensch zu sein. Mitmensch wäre eigentlich auch eine schöne Berufsbezeichnung, fällt mir gerade beim Schreiben auf. Aber bleiben wir weiter beim Sehen und Gesehen werden. Wie viele Mitarbeitende kündigen innerlich, weil ihr Beitrag für das Ganze nicht gesehen wird. Wie viele Menschen, die ich in Coachings begleite, schauen auf einen Ausschnitt des Mangels aus ihrem Leben, finden für diesen viele Worte – und verschweigen so viele andere nahrhafte Momente. Coaching ist, das ist nichts Neues, Perspektivenwechsel. Ich nehme neue Aspekte in meinen Blick. Wer wie ich schielt, ist hier im Vorteil. Die doppelte Sicht, sowohl auf das Hindernde, das „Eswaroderistnicht“ ist sicher genauso wichtig, wie die Sicht auf das Seiende, und, darüber hinaus, auch auf das Mögliche. Aber diese Sicht bleibt oft versperrt, vielleicht durch Ängste, Moralvorstellungen oder Bullerbüs. Ein Teil unserer Psyche ist sicher noch in diesem Land geblieben, in diesem Traum von: Alle Menschen sind gut und lieb miteinander und abends gibt es Butterbrote. Sehen bedeutet sicher auch zum großen Teil die ruhige Annahme dessen, dass es nichts gibt, was Menschen sich nicht schon angetan haben. Und dass es Frühling, Hilfe und das andere eben auch gibt. Und ich die Entscheidung habe, worauf ich blicke. Ich suche immer noch das Sonett von Shakespeare, in dem es sinngemäß darum ging: Die Sonne geht auf, die Rose öffnet sich. Wahrscheinlich denkt sie nicht; ich sollte weniger duften, es könnte die andere stören, oder ich sollte so oder so duften, nein, sie ist einfach. Und dann der Satz: Doch du, ins eigene Auge eingesperrt, verkennst der Welt was du bist und hast. Ist das nicht ein unglaublicher Satz: „Ins eigene Auge eingesperrt“. Die Tage bin ich mit einer Frau beim Wandercoaching gewesen, sie hatte das Gefühl, dass kein Mensch sie sehen würde, so, als ob sie Luft sei. Das interessante war, dass sie keinen anderen Wanderer gesehen hatte, sie ging mit gesenktem Kopf und in tiefer Trauer darüber, dass kein Mensch zu ihr „Guten Tag“ sagt, während ich einige nette Blicke oder stille Grüße, manchmal auch ein „Grüß Gott“ auf dem Weg geschenkt bekam. So unterschiedlich können Wahrnehmungen sein, keinen Meter voneinander entfernt. Als wir geübt hatten, den Blick zu heben, andere Menschen anzuschauen, konnte sie sehen, dass es an ihr war, nicht an den anderen. Wenn es doch nur immer so einfach wäre. So, statt in dein Kissen weine hinauf, sagte schon Rilke, in diesen gelösten nachtenthaltenen Raum, oder in die Frühlingsbäume. Das, was wir sehen ist (unsere) Wirklichkeit. Deshalb zum Abschluss eine kleine Seh-Schule: Schauen Sie fünf Minuten ( Wecker stellen) einen Baum an. So, dass sie ihn nachher malen könnten. Was genau sehen Sie? Wieviele Grüns? Welche Formen? Welches Licht? Wie ist die Struktur der Rinde? Vögel? Himmel? Welche Einsicht haben Sie? Denn, wie heißt es so schön: Gutes Sehen nützt, gutes Sehen schützt.