Linde sein

Gelassener Umgang mit Unrecht ist nicht einfach. Nur: Wut, Hass und Ohnmacht ändern meistens nur eines: Meine Gesundheit.
Ich arbeite gern und oft mit Menschen, die schon einmal gegen die Wand gefahren sind. Die schon erfahren haben, was Unrecht heißt. Die, und das gilt vielleicht besonders für meine Generation, im unerschütterlichen Glauben an die Demokratie groß geworden sind. Wir haben demonstriert, Fairness, Gleichberechtigung, Ökologie, Frieden und so weiter.  Gerade habe ich wieder jemanden im Coaching gehabt, der den Chef seiner Behörde angezeigt hat, worauf ihm nahe gelegt wurde, in den Frühruhestand zu gehen. Das Vergehen des Vorgesetzten wurde nicht geahndet.
Annehmen, was ist
An dieser Stelle, so meint man, müsste die Welt kurz anhalten. Das kann doch nicht sein? Doch, es ist. Annehmen, was ist – eine der schwersten Übungen. Es gibt in diesem lieben Leben nichts, was Menschen sich nicht antun können und nichts, was sie sich nicht angetan haben. Ein Blick in die Gazetten reicht, um das zu sehen. Und jetzt sich nicht mit diesem Ärger, mit Worten, die die Luft vergiften, verbinden – das scheint die Meisterschaft zu sein. Ärger ist die stärkste energetische Verbindung, mit manchen Menschen möchte ich nicht verbunden sein.
Ich beobachte die Linde vor unserem Haus, wie der Sturm durch sie hindurchgeht. Im Sommer veredelt sie die rauen Lüfte sogar noch mit linderndem Duft. So stelle ich mir mein Gehirn vor. Ich entscheide, welcher Satz in meinem Haus Einzug halten darf, wer zu Gast bei mir ist, und wer hier einfach nur durchweht. Vielleicht mit einem Bedauern, einem “ich hätte es gerne anders gehabt” weich weggleitet. Ich gebe keine Resonanz.
Gelassen bleiben
Und nicht allein gelassen… Sondern verbunden. Wie sagte Marshall B. Rosenberg so schön: “See me beautiful” – und es ist an mir, Dolmetscher zu sein, egal in welcher Form mir jemand begegnet. Das ist mal einfacher und mal nicht. Durchrauschen lassen durch das Lindenblattwerk. Warten. Einen guten Wunsch hinterherschicken. Lösung denken. Warten.

Vielleicht geht das erst, nachdem man die Phasen der Trauer durchstanden hat. Wut, Fassungslosigkeit, Ohnmacht… um hinterher leer zu sein, wie es der wunderbare Dichter Jan Skácel mal beschrieben hat:

alles schmerzt sich einmal durch bis
auf den eignen grund
und die angst vergeht
schön die scheune die nach längst
vergangenen ernten
leer am wegrand steht«

Der Rest ist Üben. Mindestens 80 Jahre. Die Verletzheitsnetzwerke im Reptilienhirn antworten so schnell mit dem alten Programm: Stress. Welches wiederum zum alten “Entweder du oder ich” führt. Wer schon mal Paare beim Einräumen einer Spülmaschine beobachtet hat, weiß wovon ich spreche. Also: Wenn Sie das Gefühl haben, Sie haben recht, trinken Sie einen Lindenblütentee. Der Irrtum legt sich. Und mit einem freundlichen Gruß an empathischere Regionen im Großhirn bleiben Sie linde…